Montag, Oktober 31, 2005

Mimosen an der Macht

Reaktionen der Union: Den Wichtigsten rausgeschossen

Nun ist die Große Koalition gestolpert, bevor man sich richtig untergehakt hatte. Der heute verkündete Rücktritt Franz Münteferings vom Amt des SPD-Parteivorsitzenden stürzt nicht nur die Sozialdemokraten in eine tiefe Krise. Schnell hat sich in der Union die Erkenntnis durchgesetzt, daß Münteferings Niederlage bei der Besetzung des SPD-Generalsekretärs auch schwerwiegende Auswirkungen auf die Bildung einer gemeinsamen Regierung haben könnte. Mit Müntefering geht Angela Merkel ein verlässlicher Partner verloren, der den kleineren Koalitionspartner in Reih und Glied gebracht hätte für die wenig geliebte Ehe mit CDU/CSU. Müntefering will zwar den Koalitionsverhandlungen weiterhin beiwohnen, doch sitzen damit nun schon zwei machtlose Männer am Tisch der hilflosen Kanzlerkandidatin. Der Dritte im Bunde, Noch-Ministerpräsident Edmund Stoiber, nutzte am Abend sogleich die Chance, seinen möglichen Verbleib in Bayern anzudeuten. So sieht also der Dienst am Vaterland aus, wenn das Vaterland seine Bediensteten braucht. Von der FDP ist zu hören, daß man sich neue Hoffnungen auf eine Jamaika-Koalition macht, doch sollte der Vorsitzende Westerwelle Obacht walten lassen, denn allzu schnell könnte die allgemeine Niedergeschlagenheit des Wahlvolkes in den Wunsch nach Neuwahlen münden. Davon würden gewiß nicht die demokratischen Parteien profitieren und monatelanger Stillstand wäre die Folge, ohne daß eine ernsthafte Aussicht auf Besserung bestünde. Möge Andrea Nahles ihren zweifelhaften Sieg über die Parteiführung der SPD feiern, wir dagegen gewöhnen uns derweil an italienische Verhältnisse in Deutschland.

Posted by bo at 20:55
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Sonntag, Oktober 30, 2005

Bush am Tiefpunkt seiner Präsidentschaft

CIA-Affäre: Bushs Umfragewerte fallen weiter

Gerade einmal ein Jahr ist die Wiederwahl von George W. Bush her, mit der er seine zweite Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten antreten konnte. Neben der Fortsetzung des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus und der Eindämmung von Staaten wie dem Iran oder Nordkorea, die nach der Atomwaffe greifen, nahm seine Regierung sich auch ein ehrgeiziges innenpolitisches Programm vor. Die Probleme in den USA sind von denen in Europa nicht so verschieden, und so stand vor allem die Reform der sozialen Sicherungssysteme, allen voran der Rentenkasse, im Vordergrund, wenngleich dann Einwanderung die demographische Lagebeurteilung nicht ganz so dramatisch ausfällt, wie im alten Europa. Diese Reformpolitik ist jedoch mittlerweile ins Hintertreffen geraten, obwohl ein weiterhin sehr hohes Haushaltsdefizit die Spielräume bereits hat klein werden lassen. Das rekordverdächtige Handelsbilanzdefizit, das die Amerikaner Jahr für Jahr vor sich herschieben, hat Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, die zu einer ernsthaften Krise führen können, wenn der US-Konsummotor einmal zu stottern anfängt. Der gewöhnliche Amerikaner stöhnt derweil mehr über die hohen Spritpreise und sorgt sich um die Soldaten im Irak, von denen 2000 bislang für das Demokratie-Experiment mit dem Leben zahlen mußten. Der Irak-Krieg ist aber nicht das einzige Thema, das George Bush dieser Tage zu schaffen macht. Die Zustimmungsrate zum Präsidenten und seiner Politik hat mittlerweile einen Tiefstand erreicht. Die dilettantische Reaktion der Behörden auf den Hurrikan Katrina wurde auch der Bundesregierung angelastet und alle Milliardenhilfen, die Bush in den Wochen danach versprochen hat, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bedeutung der Naturkatastrophe für das nationale Selbstverständnis der Amerikaner zunächst stark unterschätzt wurde. Ein dem Präsidenten auch ganz persönlich anzulastender politischer Fehler ist der Administration in Washington jedoch mit der nun gescheiterten Nominierung von Harriet Miers als Richterin am Obersten Gerichtshof unterlaufen. Bushs Wunschkandidaten fehlte es an der notwendigen fachlichen Qualifikation, so daß der Vorwurf des Nepotismus nahe lag, da Miers bereits zu texanischen Zeiten als persönliche Anwältin des heutigen Präsidenten tätig war. Selbst aus seiner eigenen Partei mußte Bush sich in den letzten Wochen viel Kritik anhören, weil vielen Republikanern die Kandidatin als nicht konservativ genug erschienen war. Zu allem Überfluß sind nun auch einige von Bushs wichtigsten Unterstützern aus verschiedenen Gründen in die Kritik geraten, wie die republikanischen Mehrheitsführer in Kongreß und Senat, Tom DeLay und Bill Frist, von denen Ersterer bereits von seinem Amt zurückgetreten ist. Auch das Ansehen von Vize-Präsident Dick Cheney, dem eigentlichen Organisator der präsidentiellen Agenda, könnte beschädigt werden, denn seinem mittlerweile zurückgetretenen Staabschef Lewis Libby werden im Zuge der CIA-Affäre Meineid und Falschaussage vorgeworfen. George Bush, mit dessen Politik sich derzeit in Umfragen 58% der Bevölkerung unzufrieden zeigen, macht bei alledem keine gute Figur. Die Absage von Harriet Miers hat ihn sichtlich orientierungslos zurückgelassen. Es könnte sein, daß sich Bushs wenig charismatische und führungsschwache Persönlichkeit in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit als großes Menetekel erweist. Konnte er in den ersten vier Jahren noch von der selbstgewählten Aura des Feldherren profitieren, so erscheint es im Bereich des Möglichen, daß er nun, da er sich in den Niederungen des Alltags wiederfindet, einen aufällig schlechten Krisenmanager abgibt.

Posted by bo at 19:40
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Mittwoch, Oktober 26, 2005

EU vor informellem Treffen in London

EU 'must meet global challenge'

Am morgigen Donnerstag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in London zu einem informellen Meinungsaustausch, so zumindest hat man das Gipfeltreffen bereits abgewertet. Gerhard Schröder wird seine hoffentlich unsentimentale Abschiedsvorstellung geben, doch die Agenda bestimmen Tony Blair und Jacques Chirac. Blair, dessen EU-Präsidentschaft den von Europa-Freunden so verstandenen Auftaktsieg einer Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vorweisen kann, nutzte den heutigen Tag für eine Rede vor dem Europaparlament, in der er seine Prioritäten vorstellte. Er sprach sich unter anderem für eine gemeinsame europäische Energiepolitik, ein europäisches Forschungszentrum sowie eine kontrollierte Einwanderungspolitik aus, die auf die sich anbahnende demographische Katastrophe reagiert. Chirac dagegen nutzte die Gelegenheit, seine Agenda vorab in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu veröffentlichen. Auch er wünscht sich größere Forschungsanstrengungen, um mit den boomenden asiatischen Ländern sowie Nordamerika mithalten zu können. Natürlich unterstützt der französische Präsident den Vorschlag des Kommissionspräsidenten Barroso, der jüngst einen Hilfsfond für die von der Globalisierung betroffenen Arbeitnehmer vorschlug. Chiracs Vorstellungen davon, wie den Migrationsbewegungen nach Europa begegnet werden könne, unterscheiden sich deutlich von der Wahrnehmung des britischen Premiers. Frankreich, das als Beispiel für eine flächendeckend gescheiterte Integrationspolitik gelten darf, sieht eine erfolgreiche Politik vor allem in der Einhegung von Migrationsbewegungen in den Ursprungsländern und verstärkten Grenzkontrollen. Wie den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen ist, das trennt im Kern die beiden Staatsmänner, die auch und vor allem um die Stimme Deutschlands werben, das derzeit handlungsunfähig ist. Chirac singt das hohe Lied auf das sogenannte europäische Sozialmodell, was immer darunter zu verstehen ist. Tony Blair dagegen steht für das angelsächsische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das derzeit erheblich gesünder dasteht und gerade für die osteuropäischen Mitglieder der EU ein Vorbild ist. Vor allem aber wird auf dem Gipfel erneut der alte Streit um den Briten-Rabatt und die französischen Agrarsubventionen eine Rolle spielen. Man darf gespannt sein, ob der immer noch vom ablehnenden Votum seiner Landleute zur EU-Verfassung geschwächte Chirac erneut zum Angriff übergehen wird oder aber von der Politik des französischen Agrarprotektionismus' abzurücken bereit ist.

Posted by bo at 23:09
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Freitag, Oktober 21, 2005

Gerangel in der CSU

Im Erbfolge-Streit droht Beckstein der CSU

Edmund Stoiber läßt nichts anbrennen und wird seinen Rücktritt vom Posten des bayerischen Ministerpräsidenten erst verkünden, wenn er als Wirtschaftsminister nach Berlin gewechselt ist. Für diesen Fall stehen zwei Kandidaten in den Startlöchern, der bayerische Innenminister Günther Beckstein sowie Erwin Huber, Leiter der Staatskanzlei. Beckstein gilt als der volkstümlichere Bewerber und konnte bislang gegen den technokratisch agierenden Huber in seiner Partei und der Landtagsfraktion punkten. Beckstein allerdings verfügt nicht über das breit angelegte politische Profil Hubers, der z.B. die erfolgreiche Verwaltungsreform unter viel Widerstand seiner eigenen Parteibasis durchgepeitscht hat. Jüngste Äußerungen Becksteins, er würde im Falle einer Wahl Hubers nicht unter diesem arbeiten wollen, sondern sein Bundestagsmandat in Berlin wahrnehmen, haben nun allerdings für einen Stimmungsumschwung zugunsten Hubers gesorgt. Dieser konnte dieser Tage damit punkten, daß er sogar ein Angebot Angela Merkels abgelehnt habe, anstelle des nun nominierten de Maiziere als Kanzleramtsminister in das rot-grüne Kabinett zu wechseln. Statt dessen wolle er lieber in Bayern bleiben, was seine Chancen bei der erwarteten Kampfabstimmung der bayerischen Landtagsfraktion der CSU am 15. November beträchtlich erhöhen dürfte. Beide Kontrahenten gelten als enge Vertraute Stoibers, der in den Zweikampf bislang nicht öffentlich eingegriffen hat. Der amtierende Ministerpräsident will übrigens eine solche Kampfabstimmung tunlichst vermeiden und hofft, bis zum 15. November noch eine einvernehmliche Lösung organisieren zu können. Dennoch muß mit einem Aufstand der Landtagsfraktion gerechnet werden, die bei der komfortablen Zweidrittelmehrheit der regierenden CSU häufig nur noch abnicken darf, was Stoibers Mannen sich in der Staatskanzlei ausgedacht haben. Der ein oder andere Parlamentarier könnte sich zuguterletzt seine eigene Meinung bilden wollen.

Posted by bo at 20:42
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Montag, Oktober 17, 2005

Kabinett und Koalitionsverhandlungen

Merkel completes cabinet line-up

Nun hat auch die Union ihre Ministeraspiranten benannt. Unter ihnen kommen Schäuble, einst die große Hoffnung in der Union auf einen Generationenwechsel nach Kohl, natürlich Stoiber, und erwartungsgemäß Annette Schaven sowie Ursula von der Leyen zum Zuge. Für das Verteidigungsressort konnte der hessische Ministerpräsident Koch seinen Intimus Franz-Josef Jung durchsetzen, Stoiber gelang dies mit Horst Seehofer, den Angela Merkel zuguterletzt akzeptieren mußte, obwohl sie für Glos geworben hatte. Dennoch sieht es um Merkels Machtbasis im Kabinett nicht so schlecht aus. Zu ihren Unterstützern zählen sowohl von der Leyen als auch der Überraschungskandidat Thomas de Maiziere, derzeit Innenminister in Sachsen und Cousin von Lothar de Maiziere, der Chef des Kanzleramtes werden soll. CDU-Generalsekretär Kauder soll künftig die Bundestagsfraktion führen und zusammen mit dem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer Norbert Röttgen die Dinge im Sinne Merkels organisieren. Alles in allem muß man Merkel bescheinigen, daß sie auch diesen Schritt hin zu einer Großen Koalition souverän gemeistert hat. Sie hat sich zwar künftig mit Horst Seehofer abzugeben, der zusammen mit Sigmar Gabriel um den Posten des ewigen Störenfrieds im Kabinett kämpfen könnte, doch sollte dies die Grundlinien des Regierungshandelns nur peripher beeinflussen. Mit der Bekanntgabe der Unions-Minister ist heute zugleich die Runde der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU eröffnet worden. Damit beginnt ein immer gleiches Schauspiel, das - nebenbei bemerkt - von unserer Verfassung nicht vorgesehen ist und in dem der Versuch unternommen wird, mehr oder weniger detailliert die Agenda der künftigen Regierung vorzubestimmen. Daß hierbei immer mehr konkrete Reformschritte oder deren Verhinderung im Vorfeld einer vierjährigen Legislaturperiode beschlossen werden und auf diese Weise die Freiheit einer noch zu wählenden Regierung eingeschränkt wird, ist nicht zu begrüßen. Die Parteien sollen zwar die politischen Vorstellungen der Bürger formulieren und programmatisch bündeln, doch wird bei derart staatstragend organisierten Gesprächen eine neue Ebene der politischen Willensbildung geschaffen, die vom Wählerwillen entschiedenen weiter entfernt ist, als es sich unsere Verfassungsväter vorgestellt haben.

Posted by bo at 20:53
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Samstag, Oktober 15, 2005

Die irakische Verfassung

Iraq votes in historic referendum

Nach den erfolgreichen Parlamentswahlen im Januar hatten die Iraker heute die Möglichkeit, einen weiteren Schritt zum politischen Wiederaufbau des Landes zu gehen. Mit der Abstimmung über die Annahme der in den letzten Monaten ausgearbeiteten Verfassung wird die Grundlage für eine Neuwahl des Parlaments im Dezember gelegt und damit das Ende der derzeitigen Übergangsregierung eingeleitet. Sollte die Abstimmung am Votum der überwiegend von Sunniten bewohnten Provinzen scheitern, so muß das am Ende zu wählende Parlament erneut einen Verfassungsentwurf ausarbeiten. Das zur Abstimmung stehende Grundgesetz sieht einen demokratisch und föderal verfaßten Irak vor, der den Islam zur offiziellen Religion erklärt, aber religiöse Freiheiten garantiert. Eine unabhängige Justiz soll gleiche Rechte für alle garantieren, als Staatssprachen gelten Kurdisch und Arabisch. Allgemeine Wahlen würden alle vier Jahre stattfinden. Mit einer derartigen Verfassung, würde sie denn auch gelebt werden, wäre der Irak ohne Zweifel der modernste arabische Staat und ein dauerhafter Partner des Westens in der Region. Kritiker allerdings befürchten, daß die neue Verfassung die Zerissenheit des Iraks noch vertiefen würde, ja gar dem Bürgerkrieg weiteren Vorschub geben könnte. In der Tat konnten auch diesmal die Sunniten mehr schlecht als recht in den Verfassungsprozeß einbezogen worden. Zwar wurde wenige Tage vor der Wahl die Aufforderung zum Boykott wieder zurückgenommen, aber es muß damit gerechnet werden, daß viele Sunniten der Wahl fernbleiben. Auch viele Kurden liebäugeln mit einem eigenständigen kurdischen Staat anstatt auch weiterhin die eigenen Interessen im Irak mit friedlichen Mitteln zu vertreten. Dennoch sind die Hürden für eine Ablehung der Verfassung hoch gesetzt, so daß sich in wenigen Tagen nach Auszählung aller Stimmen ein Ja für die Verfassung durchsetzen könnte.

Posted by bo at 21:56
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Donnerstag, Oktober 13, 2005

Eine halbe Regierung

Regierungsbildung: Müntefering lobt das schwarz-rote Team

Auf einem Bein steht sie schon, die neue Bundesregierung, die von einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD getragen werden soll. Nachdem zunächst der Kanzlerposten zugunsten von Angela Merkel ausgehandelt wurde, konnte sogleich die Machtverteilung der beiden in der Wahl am 18. September gebeutelten Parteien geregelt werden. Acht Ministerämter gehen dabei an die Sozialdemokraten, lediglich sechs an die Union, die neben der Kanzlerin aber auch den Kanzleramtsminister stellt. Daß ganz offen zunächst die Posten verteilt wurden, bevor über die inhaltliche Stoßrichtung der künftigen Regierung gesprochen wird, hat zwar einen schalen Beigeschmack, ließ sich aber wegen der lange offenen Kanzlerfrage wohl nicht vermeiden, denn erst der Rückzug Schröders erlaubte eine Lösung, bei der alle Beteiligten ihr Gesicht wahren konnten. Bei der Ressortverteilung ist die Union gewiß an die Grenze des Vertretbaren gegangen, überließ sie doch etliche bedeutsame Ministerposten wie z.B. Äußeres, Verkehr und Arbeit der SPD und gab sich selber u.a. mit dem Innen-, Wirtschafts- und Verteidigungsministerium zufrieden. Die heute von Franz Müntefering benannte Ministerriege der SPD liest sich unspektakulär bis langweilig. Maßgeblich für die Stabilität der neuen Regierung dürfte die Einbindung aller drei Vorsitzenden der regierungsbildenden Parteien sein. Die Parteichefs Merkel, Müntefering und Stoiber bürgen für eine gewisse Verbindlichkeit, es ist ihnen zuzutrauen, daß sie die kommenden vier schweren Jahre gemeinsam durchstehen werden. Auch aus diesem Grunde konnte für Gerhard Schröder kein Platz mehr sein, denn seine Unberechenbarkeit dürfte zuletzt auch engste Vertraute in ernste Zweifel gestürzt haben. Auch wenn die Union ihre Besetzungsliste noch einige Tage zurückhalten wird, so darf der Bürger bereits jetzt nach dem politischen Programm der Zwangsehe aus Union und SPD fragen. Wenig zuversichtlich stimmen einen da die ersten Verlautbarungen, nach denen die SPD eine Liste von Tabus zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung gemacht hat. So will Münteferings Truppe sowohl die derzeitige Regelung für Kündigungsschutz unangetastet lassen als auch sämtliche Feier-, Sonn- und Nachtarbeitszuschläge für sakrosankt erklären. Daß solcherart verkündete Verhandlungserfolge das Land und seine vorrangigen Probleme nicht zum Gegenstand haben, scheint für die halbamtliche Interessenvertretung der Gewerkschaften nicht maßgeblich zu sein. Es bleibt die Hoffnung, daß bald so ernsthaft über die künftige Reformagenda verhandelt wird wie man in den letzten Tagen Posten verteilt hat.

Posted by bo at 22:18
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Mittwoch, Oktober 05, 2005

Ist Europa reif für die Türkei?

EU hails Turkey membership talks

Manche Gazetten sehen die am Wochenende in Luxemburg geschlagene Verhandlungsschlacht um den Beginn von Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU als konsequente Fortsetzung der Kriege des Osmanischen Reiches mit dem christlichen Europa der Frühen Neuzeit. Auch diesmal zeigten sich die "Wiener" als besonders widerspenstig und versuchten, zumindest im Tauschhandel gegen die Aufnahme von Verhandlungen mit Kroatien, die Gespräche mit der Türkei so offen wie möglich zu halten. Am Ende jedoch konnte wieder einmal Einigkeit im Europa der 25 hergestellt werden, und so gab man in Luxemburg den offiziellen Startschuß für die viele Jahre dauernden Verhandlungen mit dem Land zwischen Europa und Asien. Die Befürworter einer Aufnahme der Türkei sehen in erster Linie geo-strategische Vorteile in einer engeren Einbindung des Landes. Wenn die EU Weltmacht sein wolle, neben den USA und der kommenden Großmacht China, dann brauche es die Türkei, die aufgrund ihrer Lage und militärischen Kraft Europa an seiner süd-östlichen Flanke stabilisieren helfe. Auch als Brücke zwischen Orient und Okzident wird die Türkei verstanden, sie könne helfen, den angenommenen Bruch zwischen dem Westen und der islamischen Welt zu heilen. Natürlich fehlt auch eine innenpolitische Argumentation nicht, die die erheblichen Fortschritte in der Demokratisierung und dem Aufbau einer unabhängigen Justiz auch von einer echten Beitrittsperspektive für die Türkei abhängig macht. Solcherart redeten in der Vergangenheit vor allem jene europäischen Staaten, die in der EU in erster Linie eine Handelsmacht sehen und nicht nach einer Vertiefung der Gemeinschaft streben. Die Bevölkerung dagegen in Ländern wie Frankreich und Deutschland ist mehrheitlich gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei und fürchtet sowohl kulturelle Unterschiede als auch eine finanzielle Überforderung (die einen, weil sie Geberland sind, die anderen, weil sie maßgeblicher Profiteur des Agrarregimes sind). Auch wollen strategische Gründe nicht so recht einleuchten, denn ein tief zerstrittenes Europa (wie zuletzt in der Irak-Frage gesehen) würde auch inklusive der Türkei kaum handlungsfähig werden. Zumal die Welt kaum sicherer wird, wenn es neben der NATO noch ein weiteres militärisches Bündnis gibt. Dies trüge eher zur Entzweiung des Westens bei. Mittelfristig fahren die meisten europäischen Staaten als Juniorpartner der USA besser. Letztlich muß man die Querelen um den Start der Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei im Lichte der europäischen Identitätskrise sehen. Seit der Ablehnung der europäischen Verfassung ist auch dem letzten Europa-Apologeten nur schwer zu vermitteln, in welche Richtung die Gemeinschaft sich entwickeln wird oder soll. Ausbaden muß dies nun auch die Türkei, die zwar in der Tat erhebliche Fortschritte hin zu einem demokratischen Rechtsstaat gemacht hat und auch wirtschaftlich, obwohl entscheidend ärmer als der Rest Europas, viel Dynamik an den Tag legt, aber doch zuguterletzt am Ende der Verhandlungen durch ein Nein von der Vollmitgliedschaft ausgeschlossen werden kann. Bis dahin fließt noch viel Wasser die Donau herunter, und die Europäer werden die Frage beantworten müssen, was eigentlich Europa ist. Wenn die Antwort so ausfällt, daß darunter lediglich ein Kerneuropa zu verstehen sei und alle anderen Länder in einer Wirtschaftsgemeinschaft eingebunden werden, dann wäre die Türkei selbstverständlich Teil einer solchen. Sollte die derzeitige Tendenz zur Überdehnung der EU anhalten, dann wird der Gründungsgedanke der Europäischen Union weiter verblassen und auch der Beitritt Südafrikas keinem Bürger die Nachtruhe rauben.

Posted by bo at 23:24
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